Krankheiten, neu erfunden
Am Mittwochabend jemand beim Pokalhalbfinale FC St. Pauli gegen FC Bayern Neosino München mal einen genaueren Blick auf die Bandenwerbung geworfen?
www.mann-info.de auf Viagra-blauem Hintergrund gesehen? Die URL später in die Adresszeile des Browser eingegeben und die Seite gefunden, um den Satz zu lesen: "Guter Sex tut gut – in jeder Beziehung."? Und sich dann die Seiten durchgelesen, und vielleicht Zweifel bekommen, ob man nicht vielleicht unter einer Erektilen Dysfunktion leidet (Also, wenn Mann mal nicht kann)? Darüber nachgedacht, unbedingt zum Arzt zu gehen und ihm klar zu machen, dass man Viagra braucht? All das gestern abend passiert?
Das ist genau das, was Pfizer damit bezwecken wollte. Den Eindruck erwecken - nur weil es zuletzt mal nicht geklappt hat oder auch mal öfter nicht gepklappt hat - dass man eigentlich eine Krankheit hat (obwohl vielleicht einfach nur Stress die Ursache war).
Dieses Jemanden-vom-Fernseher-durch-Bandenwerbung-
zum-Arzt-bringen-und-unser-Produkt-fordern ist Teil einer Marketingstrategie von Pharmafirmen, die Fachleute als Disease mongering bezeichenen.
Das ist ein schwierig zu übersetzender Begriff, den man plump als Krankheiten erfinden translatieren könnte, um so die Kranheitszone und damit die Verkaufszone auszuweiten.
Mongering ist eigentlich der Handel (passt ja). phrase mongering ist die Phrasendrescherei. Sensation mongering ist die Sensationsmacherei, aber auch die Sensationslust. (Dank an LEO.org für eure tolle Übersetzungsseite).
Durch die anderen Begriffe bekommt man vielleicht ein Gefühl dafür, was Disease mongering ist. Es hat etwas mit Übertreibung zu tun. Das Thema ist inzwischen so bedeutend in der Medizin, dass es jetzt eine Konferenz im australischen Newcastle dazu gab.
Das Fachmagazin PLoS Medicine hat freundlicherweise elf Beiträge von Teilnehmern online gestellt.
Dort erfährt der erstaunte Laie zum Beispiel wie Pfizer die Erectile Dysfunktion (klar jetzt?) neu definiert hat. Und einen so dazu bringt, zu glauben, dass eigentlich nur eines hilft, wenn Mann schlapp macht: die blaue, rautenförmige Pille.
Oder: Wie Lehrer mit dazu beitragen, dass Kinder als "Zappelphillipe" abgestempelt werden, ADSH diagnostiziert wird (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität) und Ritalin verschrieben bekommen. Und damit zum kräftigen Anstieg der Verkaufszahlen beitragen.
Oder: Wie Frauen ganz subtil eingeredet wird, im Bett keine Lust zu haben, sei ein klarer Fall von Weiblicher Sexueller Dysfunktion (also eine Krankheit, die man behandeln muss).
Leider sind alle Texte in Englisch, was ja nicht jeder beherrscht. Eine deutsche Zusammenfassung gibt es derzeit hier. Sicher bald auch in anderen Zeitschriften und Zeitungen.
Gebt uns doch bitte Bescheid, wenn Ihr Beiträge dazu gefunden habt, damit auch nicht-Englisch sprechende Menschen ein wenig hinter die Kulissen gucken können.
Ansonsten empfehlen wir natürlich das Magazin Gute Pillen - Schlechte Pillen, das in der aktuellen Ausgabe die verkappte Viagra-Werbung (mit dem Hinweis auf www.mann-info.de) in vielen Magazinen auseinander nimmt.
Bleibt standhaft.
Hinweis:
Auch wenn es mal wieder gegen Pharmafirmen geht, sind die Allergiker unseres Teams natürlich heilfroh, dass die gute Mittel gegen unseren Heuschnupfen entwickelt haben. Das ermöglicht uns schließlich, unbeschwert unsere Artikel zu schreiben.
Nachtrag:
Unser Lieblingsautor Ben Goldacre leistet eine notwendige und erhellende Ergänzung zum Thema. Es sind natürlich nicht nur die Pharmafirmen, die für uns neue Krankheiten erfinden oder vorhandene übertreiben, um die Verkaufszone auszuweiten.
Es sind natürlich auch die Medien beteiligt, die liebend gerne über Studien berichten wie etwa die Daily Mail, die kürzlich meldete: "Night Eating Syndrome (etwa das "Nächtliche Heißhunger-Attacken Syndrom", Syndrom muss rein, sonst wär es ja keine Krankheit) betrifft etwa eine Million Briten. Aber bei 30 Prozent der Betroffenen lindere der Wirkstoff Setralin (ein Antidepressivum) die Symptome."
Die Daily Mail bezieht sich auf eine Studie von Pfizer mit (Achtung!) 17 Probanden (keine Kontrollgruppe, kein gar nichts). Kommentar Goldacre: "Pfizer hat nicht all zu viel tun müssen, damit über die Studie berichtet wurde."
Und es sind natürlich auch alle potenzielen Nutzer gefragt, die in Anflügen von Hypochondrie jedes Kneifen als Vorboten einer bisher unbekannten Krankheit verdächtigen. Und kritiklos (oder auch einfach unwissend, weil nie gelernt) alles aufsaugen, was ein Mann in weißem Kittel mit Sorgenfalten auf der Stirn von sich gibt.
Ben Goldacre: "... wir sind alle Beteiligte in diesem Spiel."
www.mann-info.de auf Viagra-blauem Hintergrund gesehen? Die URL später in die Adresszeile des Browser eingegeben und die Seite gefunden, um den Satz zu lesen: "Guter Sex tut gut – in jeder Beziehung."? Und sich dann die Seiten durchgelesen, und vielleicht Zweifel bekommen, ob man nicht vielleicht unter einer Erektilen Dysfunktion leidet (Also, wenn Mann mal nicht kann)? Darüber nachgedacht, unbedingt zum Arzt zu gehen und ihm klar zu machen, dass man Viagra braucht? All das gestern abend passiert?
Das ist genau das, was Pfizer damit bezwecken wollte. Den Eindruck erwecken - nur weil es zuletzt mal nicht geklappt hat oder auch mal öfter nicht gepklappt hat - dass man eigentlich eine Krankheit hat (obwohl vielleicht einfach nur Stress die Ursache war).
Dieses Jemanden-vom-Fernseher-durch-Bandenwerbung-
zum-Arzt-bringen-und-unser-Produkt-fordern ist Teil einer Marketingstrategie von Pharmafirmen, die Fachleute als Disease mongering bezeichenen.
Das ist ein schwierig zu übersetzender Begriff, den man plump als Krankheiten erfinden translatieren könnte, um so die Kranheitszone und damit die Verkaufszone auszuweiten.
Mongering ist eigentlich der Handel (passt ja). phrase mongering ist die Phrasendrescherei. Sensation mongering ist die Sensationsmacherei, aber auch die Sensationslust. (Dank an LEO.org für eure tolle Übersetzungsseite).
Durch die anderen Begriffe bekommt man vielleicht ein Gefühl dafür, was Disease mongering ist. Es hat etwas mit Übertreibung zu tun. Das Thema ist inzwischen so bedeutend in der Medizin, dass es jetzt eine Konferenz im australischen Newcastle dazu gab.
Das Fachmagazin PLoS Medicine hat freundlicherweise elf Beiträge von Teilnehmern online gestellt.
Dort erfährt der erstaunte Laie zum Beispiel wie Pfizer die Erectile Dysfunktion (klar jetzt?) neu definiert hat. Und einen so dazu bringt, zu glauben, dass eigentlich nur eines hilft, wenn Mann schlapp macht: die blaue, rautenförmige Pille.
Oder: Wie Lehrer mit dazu beitragen, dass Kinder als "Zappelphillipe" abgestempelt werden, ADSH diagnostiziert wird (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität) und Ritalin verschrieben bekommen. Und damit zum kräftigen Anstieg der Verkaufszahlen beitragen.
Oder: Wie Frauen ganz subtil eingeredet wird, im Bett keine Lust zu haben, sei ein klarer Fall von Weiblicher Sexueller Dysfunktion (also eine Krankheit, die man behandeln muss).
Leider sind alle Texte in Englisch, was ja nicht jeder beherrscht. Eine deutsche Zusammenfassung gibt es derzeit hier. Sicher bald auch in anderen Zeitschriften und Zeitungen.
Gebt uns doch bitte Bescheid, wenn Ihr Beiträge dazu gefunden habt, damit auch nicht-Englisch sprechende Menschen ein wenig hinter die Kulissen gucken können.
Ansonsten empfehlen wir natürlich das Magazin Gute Pillen - Schlechte Pillen, das in der aktuellen Ausgabe die verkappte Viagra-Werbung (mit dem Hinweis auf www.mann-info.de) in vielen Magazinen auseinander nimmt.
Bleibt standhaft.
Hinweis:
Nachtrag:
Unser Lieblingsautor Ben Goldacre leistet eine notwendige und erhellende Ergänzung zum Thema. Es sind natürlich nicht nur die Pharmafirmen, die für uns neue Krankheiten erfinden oder vorhandene übertreiben, um die Verkaufszone auszuweiten.
Es sind natürlich auch die Medien beteiligt, die liebend gerne über Studien berichten wie etwa die Daily Mail, die kürzlich meldete: "Night Eating Syndrome (etwa das "Nächtliche Heißhunger-Attacken Syndrom", Syndrom muss rein, sonst wär es ja keine Krankheit) betrifft etwa eine Million Briten. Aber bei 30 Prozent der Betroffenen lindere der Wirkstoff Setralin (ein Antidepressivum) die Symptome."
Die Daily Mail bezieht sich auf eine Studie von Pfizer mit (Achtung!) 17 Probanden (keine Kontrollgruppe, kein gar nichts). Kommentar Goldacre: "Pfizer hat nicht all zu viel tun müssen, damit über die Studie berichtet wurde."
Und es sind natürlich auch alle potenzielen Nutzer gefragt, die in Anflügen von Hypochondrie jedes Kneifen als Vorboten einer bisher unbekannten Krankheit verdächtigen. Und kritiklos (oder auch einfach unwissend, weil nie gelernt) alles aufsaugen, was ein Mann in weißem Kittel mit Sorgenfalten auf der Stirn von sich gibt.
Ben Goldacre: "... wir sind alle Beteiligte in diesem Spiel."
von marcus_ | 13. Apr 2006, 10:49 | Kommentieren | 224 Trackbacks
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